18. Juli 1861
Schon um 1/2 4 Uhr war ich wach, Mama kam um 1/2 5 Uhr, da sie um 1/2 6 Uhr abfahren, brachte mir auch den Caffe und machte mir die Haare, dann nahm sie Abschied zum ersten Mahl seit einem Halbjahr. Denn heut ists gerade 26 Wochen seit ich krank bin. (...) nach 5 Uhr kam H. Professor. Er war sehr freundlich u. gut, u. saß wenigstens 1. Sunde bei mir. Zuerst redeten wir v. Nanny, die er im Garten gesehen hat, dann v. Papa u. Mama u. d. Heinrichsbad, u. wie ich es Mama gönnen möchte. Er sagte auch, er wüßte nicht, warum sie nicht hätte gehen sollen, ich sei jetzt nicht mehr elend. Dann sagte ich ihm, heute sei es ein halbes Jahr seit ich krank geworden. Wenn ich die liebe Mama u. ihn nicht gehabt, so wäre es mir jedenfalls schlimm gegangen. Und er sagte, dann hätte jemand anders seine Stelle eingenommen. Jch antwortete, das wäre nicht möglich gewesen, so lieb hätte ich Niemand haben können. Jch werde ihm auch stets dankbar bleiben. Dann fragte er mich Alles, verordnete auf morgen ein Bad und eine Pille sagte wegen dem Essen u. d. Wein, ich solle mein Möglichstes thun und auch beim Habermus bleiben. Die einfächsten Sachen müsse zuerst essen lernen, sonst sei mein Magen nicht gut. Rindfleisch halte er für eben so gut als Kalbfleisch, trotz Frau Doktor Rahn. Dann sagte ich es ihm nochmals wegen d. hinuntergehen Abends, u. er sagte, er habe es mir schon mehrere Mal sagen wollen, aber keine Gelegenheit gefunden. Er hätte schon oft bemerkt, daß er viele Worte gegeben, möchte nur aber, wenn ich es erlaube nur rathen, immer selbständiger u. sicherer zu werden. Er wisse, daß er mir ja nichts gegen meine Eltern sagen dürfte, u. er möchte es auch durchaus nicht thun, aber einzig möchte er mich ruhiger meinen eignen Weg gehen sehen. Jch sagte, ich habe dies auch doppelt nöthig, doch dürfe aber nicht daran denken, sie nicht mehr um mich zu haben. Er begriff dieß, u. sagte, hoffentlich könne ich sie noch viele Jahre behalten, aber dann möchte ich doch weder eine böse Tante noch ein Tanteli werden, u. deßhalb müsse ich schon jezt lernen mit Ruhe u. Bestimmtheit meinen eigenen Weg gehen. Es sei wohl schwer, aber ebenso gut, als man sich Heftigkeit abgewöhnen könne, so könne man sich auch nach u. nach etwas Gutes aneignen. Er habe 7 Jahre unter seinem Onkel gestanden, und 3 Jahre alles für ihn besorgt u. derselbe sei heftig gewesen. Er habe sich aber Mühe gegeben ihm nicht zu widersprechen, sondern nur ruhig seine Gründe gesagt u. sei doch gewöhnlich zum Ziel gelangt. Was unser Zusammensein, worüber ich klagte, anbetreffe so möchte er oft nicht dabei sein, denn das stete Miteinander reden sei ihn zuwieder. Er würde sagen: Wer hat jetzt eigentlich das Wort, dann man komme auf diese Art zu keinem vernünftigen Gespräch. Jch sagte das mache auch Mama sehr Mühe, aber der Hausherr sollte hier eben einschreiten, was bei uns nicht möglich sei. Als ich auch dann verwunderte, daß er Alles so gut beurtheile, sagte er, er gehe eben darauf ein, und mache sich ein Bild davon, und allein, was er schon erfahren, mache ihm möglich, die Verhältniße zu beurtheilen. Sobald man in sich selbst klar sei, was man eigentlich wolle, könne man sich dann auch leicht u. verständlich ausdrücken; aber vor Allem müsse man klar sein bei sich selbst, und dann so wenig als möglich Worte machen. Er sagte, ich solle es ihm nicht übel nehmen, daß er Alles das gesagt, ich dankte ihm aber dafür, u. sagte wenn er mir etwas erkläre, so bleibe es mir gut im Sinn, weil es sachlich vorgetragen werde. Nachdem er noch gesagt, wie er sich auch schon so viel gesorgt und so schlaflose Nächte gemacht, und dann nachher doch gesehen, daß Alles besser gekommen sei, fragte ich ihn noch wegen d. Fliegengärnli. Er hat mir damit ein Geschenk gemacht, und dasselbe zu Fuss, in d. Händen gebracht u. einem Bekannten gesagt, er wolle Schmetterlinge fangen. Nachdem ich ihm dann noch herzlich dafür gedankt, u. noch Allerlei geredet, ging er gegen 6 Uhr fort. O mein Gott, gib ihm doch noch Deine schönste Gabe, daß er Dich lehrt erkennen u. sein Wert nur einzig und allein auf seinen Erlöser sehen. (…)